Hauptstadt abseits ihres Landes

Darf man als Nicht-Berliner über Berlin schreiben? Man darf. Haben ja auch schon genug andere Nicht-Berliner gemacht. Aber kann man als Nicht-Berliner über diese Stadt schreiben? Hm…

Von Sebastian Binder

Berlin unterscheidet sich in einer Hinsicht nicht von anderen berühmten Städten: Wenn man Berlin sagt, dann hat jeder immer sofort ein Klischee im Kopf. Sei es das Brandenburger Tor, Chaos, Partys auf chemischen Substanzen, der unbedingte Drang zu exzessivem Hedonismus, Schwaben, auf Englisch bestellen, alte Häuser mit neuen Graffiti, kaputte Gehsteige, Essen, überall Essen… die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Es hatte schon immer etwas erfrischend Ironisches an sich, dass ausgerechnet die Hauptstadt des im Ausland immer als superkorrekten, superdurchgeplanten, superpünktlichen Deutschlands diesem Standard nicht entspricht. Weil sie es aus zig Gründen nicht kann, aber die schönere Variante ist: Weil sie es nicht will. Berlin schwimmt wie eine Insel in einem Meer aus deutscher Tugend, auf die sich jeder retten will, der in diesem Ozean aus biedermeierscher Tugendhaftigkeit abzusaufen droht.

Berlin als Sehnsuchtsort der Merkwürdigkeiten

Ein merkwürdiger Sehnsuchtsort, in dem nichts und alles irgendwie zusammenpasst, der so zerrissen ist wie seine Geschichte und eine Aura ausstrahlt, die einen gefangen nimmt, weil hier so viele Einflüsse aufeinander prallen, dass man sie eigentlich nicht verarbeiten kann. Und trotzdem versucht man es, man taucht aus dem Meer der Tugendhaftigkeit auf und in diese Aura ab, ohne zu wissen, was man dort finden wird, weil es zunächst darauf ankommt, was man eigentlich sucht.

Für jüngere Leute bedeutet Berlin zunächst Exzess und das stimmt natürlich, denn man muss in dieser Stadt nicht lange nachfragen, um an die Grenze der Hemmungslosigkeit zu stoßen und sie binnen weniger Minuten zu überschreiten. Gefangen in finsteren Technobunkern, die dir drei Tage lange 125 Beats pro Minute um die Ohren schleudern, bis du irgendwann nicht nur die Uhrzeit, sondern den Tag vergisst. Du findest dich mit den anderen Tanzleichen an irgendeiner sandigen After Hour-Location, bis dir dein Handy sagt, dass Montag ist und du seit zwei Stunden in der Arbeit sein müsstest.

Klischees, auf Hauswände gemalt

Ja, das ist Berlin, aber eben auch nur eines dieser Klischees, das zugegebenermaßen Spaß macht, wenn man es bedient. Nur der Wimpernschlag einer Facette, eines der vielen Gesichter dieser schizophrenen Stadt, von der man nie weiß, welches davon dich als nächstes im Spiegel heimsuchen wird.

Man läuft durch die Straßen, diese Straßen, die so voller Geschichte sind, all diese historischen Gebäude, Meisterwerke der Architektur… von denen 80 Prozent voller Graffiti sind. Man kann darüber streiten, ob man das nun gut findet und je älter der Gesprächspartner ist, desto klarer dürfte die Antwort auch sein, zumal man selbst als Street-Art-Fan zugeben muss, dass nicht alle Tags auf den Hauswänden mit einem großen Wurf der Ästhetik gleichzusetzen sind. Aber darum geht es auch nicht, denn die verzierten Hauswände sind Teil des Bildes, des Selbstbildes dieser Stadt, etwas, das sie von Hamburg und vor allem von München unterscheidet. Als Nicht-Berliner mag man zunächst kurz irritiert sein, doch im Laufe des Tages gewöhnen sich die Augen an die tätowierten Wände und man muss aufpassen, dass man ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit widmet, schließlich will man nicht in eines der ziemlich zahlreichen Schlaglöcher treten. Und Fakt ist, dass Berlin allein schon wegen seiner Hauswände einen Besuch wert ist, denn natürlich gibt es auch die legalen Kunstwerke an den Häusern, die genau das sind: Kunstwerke.

Alptraum der Diätfanatiker

Und selbst wenn man mit Geschichte und Exzess und Kunst und all dem anderen Krempel nichts anfangen kann, gibt es dennoch einen trifftigen Grund, dieser seltsamsten aller deutschen Städte einen Besuch abzustatten: Das Essen. Nirgends in diesem Land gibt es eine derart große Vielfalt an unterschiedlichstem Essen auf so engem Raum. Zwar haben auch hier die Preise ordentlich angezogen in den letzten Jahren, aber ein besseres Preis-Leistungsverhältnis – insbesondere was die Qualität betrifft – wird man aber in diesem Land nicht so leicht finden. Und natürlich darf man nicht in die Touristenfallen rund um die großen Sehenswürdigkeiten gehen und sich ein Schnitzel bestellen. Aufregendes Essen findet man in Kreuzberg, im Wedding, in Friedrichshain, im Prenzlauer Berg (jaja, auch noch in anderen Bezirken, schon klar). An jeder Ecke, besser: in jedem zweiten Haus ist dort irgendein abgefahrener Laden und selbst wenn man beschließt, zwei Wochen lang nur ununterbrochen gutes Essen in sich reinzuschaufeln, wird man nicht einmal drei Straßen in Kreuzberg schaffen. Und dann hat man noch nicht einmal die ganzen Märkte im Mauerpark oder am Kollwitzplatz gesehen, die man besser nicht besuchen sollte, wenn man auf Diät ist. Es ist tatsächlich so: Was für den 20-Jährigen die exzessive Technoszene ist, ist für den 40-Jährigen die Essensszene, die in gewisser Weise vielleicht sogar noch exzessiver als das Partytreiben ist.

Doch egal, was man in dieser Stadt macht, ob man eintaucht, abstürzt, reinschaufelt – eines macht Berlin immer: Es bleibt in Erinnerung. Das kann man nun gut oder schlecht finden…

To be continued… oder besser: Wird noch vertieft…

Fotos: Sebastian Binder